Regens Wagner Holzhausen hat sehr unterschiedliche Zeiten erlebt, gute und auch schlechte Abschnitte der Geschichte. Die mit Abstand bedrückendste Zeit waren die Jahre 1933 bis 1945, als in Deutschland der Nationalsozialismus herrschte.
Am 14. Juli 1933 kam das „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ heraus. Es bereitete den Dillinger Franziskanerinnen im Konvent ebenso wie den behinderten Bewohnerinnen große Not. 162 Frauen und Mädchen im gebärfähigen Alter lebten damals im Magnusheim. Die meisten von ihnen durften nun nicht mehr nach Hause fahren, um ihre Eltern und Geschwister zu sehen. Im Heim machte sich Unruhe breit. Das ständige Vor-Ort-Sein verursachte Anspannung und schuf ein Gefühl der Enge.
So sahen sich die Schwestern vor die Aufgabe gestellt, den Frauen und Mädchen anderweitig eine Abwechslung zum Heimalltag zu schaffen, zum Beispiel durch Ausflüge. „Wir suchten immer wieder die Mädchen für den Verzicht auf den Heimaturlaub zu entschädigen und nützten jede Gelegenheit dazu aus“, ist im Jahresbericht 1936 zu lesen.
Gleichzeitig wurde es immer schwieriger, den normalen Alltag aufrechtzuerhalten, denn „die Anstalten werden von behördlicher Seite streng, fast argwöhnisch überwacht und mitunter genau und peinlich visitiert.“ (Jahresbericht 1936)
Das Jahr 1939 markiert den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Es lebten damals 40 Schwestern im Magnusheim. Ihre Zahl erhöhte sich im Lauf des nächsten Jahres auf 49 – leider aus sehr bedauerlichen Gründen: Das NS-Regime setzte zahlreichen Aktivitäten der Dillinger Franziskanerinnen und anderer klösterlicher Einrichtungen ein Ende. So wurden vielfach Klosterschulen geschlossen, Franziskanerinnen vom Schuldienst ausgewiesen, und 9 „arbeitslose“ Schwestern suchten im Magnusheim eine neue Heimat.
Alles hatte sich verändert, der Heimbetrieb wurde wie der Schulbetrieb von den Erfordernissen des Kriegs geprägt. Gab es vor Kriegsbeginn für die erwachsenen Frauen sinnstiftende Tätigkeiten in verschiedenen Arbeitsfeldern – nämlich Landwirtschaft, Hauswirtschaft, Gartenbau, Nähen, Sticken, Klöppeln, Filetarbeiten, Teppichweben, Schusterei –, so war es während der Krieges nur noch ansatzweise möglich, diese weiterzuführen. Die Franziskanerinnen leisteten nun zusammen mit den betreuten Frauen und den Schülerinnen – wie damals für Schulklassen üblich – Einsatz bei der Ernte von Kartoffeln, Rüben und Heu. Sie halfen auch beim Flachsanbau, beim Erdbeerpflücken in der Gärtnerei Storz oder beim Teesammeln: „Mit Eifer folgten die Kinder zum Teesammeln. Unser Dachboden war den Sommer über ständig belegt mit Kräutern aller Art.“ (Jahresbericht 1940)
Eine Welle der Beunruhigung lösten im Jahr 1940 die Meldebögen für das Reichsinnenministerium in Berlin aus. Dabei ging es um die planmäßige Erfassung von Anstaltspatienten im Rahmen der sogenannten „Aktion T4“: Es mussten darin alle Bewohnerinnen genannt werden, die nur mechanische Arbeiten verrichten konnten oder die sich bereits fünf Jahre oder länger in der Anstalt befanden.
Wir wissen von der damaligen Oberin, in welch unvorstellbarer innerer Not diese Bögen ausgefüllt wurden. Neun behinderte Menschen wurden darauf im Dezember 1940 und Juli 1941 in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren verlegt. Was das zu bedeuten hatte, darüber wusste man nichts Genaues, ahnte aber Schreckliches.
Schon kurze Zeit nach der zweiten Verlegung, am 14. Augst 1941, ließ sich Dr. Schmalenbach vom Staatsministerium des Innern etwa 50 Bewohnerinnen vorstellen, die im Raster der Meldebögen als „unklare Fälle“ galten. Er befand, dass 16 von ihnen „im Interesse der Reichsverteidigung“ in die Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren verlegt werden sollten. Daraufhin kam am 21. August der Direktor der Kaufbeurer Anstalt, Dr. Faltlhauser, ins Magnusheim. Er hatte in behördlichem Auftrag persönlich sämtliche „Zöglinge“ des Hauses zu prüfen. Bei dieser Visite spornte er die Frauen und Mädchen zu „guter Führung und fleißigem Schaffen“ an. Den Schwestern gegenüber trat er sehr für eine gründliche Ausbildung ein, da man heute schließlich alle Kräfte brauche – und drängte auf Entlassung der „besseren Mädchen“ – man sprach damals von „Mädchen“, auch wenn es sich um erwachsene Frauen handelte –, die zur Arbeit brauchbar schienen.
Vier Tage nach diesem denkwürdigen Besuch wurden die 15 am schwersten behinderten Frauen und Mädchen „mit einem Verkehrsomnibus von zwei Pflegerinnen abgeholt“ und nach Kaufbeuren gebracht. Es war für alle ein schwerer und schmerzreicher Abschied, weil niemand genau wusste, wie es mit den Betroffenen weitergehen würde. Zwei wurden „nach einigen Tagen nach Hause entlassen, zwei kehrten nach einigen Monaten ins Magnusheim zurück“. (Jahresbericht 1941)
Heute wissen wir, dass in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren in der NS-Zeit im Zuge der Euthanasie-Gesetzgebung Tausende von behinderten Menschen gewaltsam zu Tode kamen oder von dort in andere Tötungsanstalten gebracht wurden.
Die nächste große Veränderung kam mit der Einrichtung eines Reservelazaretts im Magnusheim. Am 1. September 1941 ging die Anordnung ein, dass bis zum 17. Oktober eine „beschleunigte Räumung“ zu erfolgen habe. Im Zuge dessen wurden 50 Frauen und Mädchen nach Ursberg, Breitbrunn und Hohenwart verlegt, 59 Frauen und Mädchen wurden zu den Familien nach Hause geschickt oder an Dienststellen entlassen. Was aus ihnen wurde, lässt sich heute nur noch in Einzelfällen nachvollziehen.
Ende Dezember 1941 war ein „Großteil unseres Hauses von der Wehrmacht als Lazarett beschlagnahmt“ (Jahresbericht 1941). Trotz der erfolgten Räumungen lebten immer noch 160 Menschen mit Behinderung im Magnusheim, sodass es im Haus extrem eng wurde. In der Schule gab es zu diesem Zeitpunkt kaum noch Lehrerinnen, denn die meisten Schwestern wurden zu Pflegediensten an den verwundeten Soldaten abberufen. Die Sorge, ob der Schulbetrieb überhaupt aufrechterhalten werden konnte, beschäftigte die Schwestern sehr: „Die Schule ist im Rahmen des Ganzen nicht nur in den Hintergrund gerückt, wiederholt bangten wir um ihr Weiterbestehen.“ (Jahresbericht 1942) Tatsächlich wurde die Schule im Jahr 1943 als „selbstständige Unterrichtsanstalt“ aufgelöst; sie blieb als Zweigstelle der öffentlichen Volksschule Holzhausen weiter bestehen und war nun dem dortigen Schulleiter unterstellt.
Mit Ende des Krieges wurde aus dem Reservelazarett ein KZ-Hospital für von den Amerikanern befreite jüdische KZ-Häftlinge. Im Haus wurde es noch einmal enger. Kinder mussten in die Mühle umziehen, Erwachsene schliefen auf dem Fußboden des Speiseraums.
Es war noch einmal eine schmerzreiche Zeit, denn die insgesamt 526 Menschen waren ausgemergelt, bis zum Skelett abgemagert und zum großen Teil lebensbedrohlich erkrankt an Fleckfieber, Ruhr, Typhus oder Tuberkulose. Die Franziskanerinnen waren extrem gefordert. 40 Jahre später erinnerte sich Schwester Christine in einem Interview:
„Am 29. April rollten die ersten Lastwagen mit KZ-Häftlingen an. Selbe waren in Stroh verpackt. Sie sahen elend, halb verhungert und verletzt aus. Sie wogen 25 bis 30 Kilo. Es wimmelte von Läusen. Wir haben Tag und Nacht gebadet. (…) Stündlich ein Löffel Haferschleim konnte helfen, langsam wieder zu Kräften zu kommen. (…) Die ersten Tage starben täglich bis zu zehn Menschen. Wir legten oft drei oder vier in einen Sarg, weil wir gar nicht so viele Särge herbeibringen konnten. Im neu errichteten Friedhof an der Singold, der von den Amerikanern bestimmt war, hat man sie begraben.“
Doch gab es in dieser Zeit auch Glücksmomente, wenn jemand genesen war. So schreibt die Chronistin: „Wir möchten auch diese Hospitalzeit nicht vermissen. Wir spürten oft, dass sie uns zum Segen wurde.“ Wiederholt sind später Grüße aus Israel eingetroffen, in denen zu lesen stand: „Dieses Haus ist die einzig schöne Erinnerung an Deutschland.“
Wir können kein Resümee in Zahlen ziehen und nicht benennen, wie viele Mädchen und Frauen aus dem Magnusheim durch die Gewaltherrschaft der NS-Zeit zu Tode gekommen sind. Von Einzelnen ist bekannt, dass sie in der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren verhungert sind. Einige wurden nach Hause entlassen. Bei den meisten aber verlieren sich die Spuren.
Was bleibt,
ist die Erschütterung bis heute.
Was bleibt,
ist das ehrende Gedenken der Opfer, auch wenn wir keine Gräber kennen.
Was bleibt,
ist die Wachsamkeit gegenüber allen menschenverachtenden Tendenzen.
Was bleibt,
ist das Zusammenstehen für das Leben – Hand in Hand – Menschen mit und ohne Behinderung.
Direktor Rainer Remmele äußert sich im Internetauftritt von Regens Wagner Michelfeld wie folgt zum Thema:
Es gibt Ereignisse, die nicht in Vergessenheit geraten dürfen. Nicht um der Ereignisse, sondern um der Menschen willen. Wer gut in die Zukunft gehen will, muss sich mit dem Geschehenen auseinandersetzen.
Manche Ereignisse müssen in Erinnerung bleiben, weil sie Hoffnung und Zuversicht spenden: Denk daran, damals wurde Unvorstellbares wirklich: David besiegt Goliath. Das Volk Israel, gedemütigt und geknechtet, zieht hoffnungsfroh durch das Meer in ein neues Land, eine neue Zeit.
Manche Ereignisse dürfen nicht vergessen werden, weil sie unsägliches Leid über die Menschen und über die Menschheit brachten: Die Herrschaft und der gnadenlose Terror von Diktatoren und ihrem Regime. Die ohnmächtige Feigheit und die Gewissenlosigkeit so vieler Einzelner. Nie wieder Terror! Nie wieder Krieg! Nie wieder Diktatur und Unterdrückung!
Immer wieder markieren Menschen Orte und Zeiten, um sich und zukünftige Generationen an solche Ereignisse zu erinnern. Sie errichten DenkMal-Steine, um nicht zu vergessen, was nicht vergessen werden darf.
Die Ereignisse vom 28.9.1941, dem Tag, an dem 220 Bewohnerinnen bei Regens Wagner auf Grund einer Anweisung der Nationalsozialisten aus Michelfeld mit ungewisser Zukunft abtransportiert wurden, ist ein solches Ereignis, das in das Gedächtnis der Menschen eingeprägt werden muss.
Unser DenkMal besteht aus einem lebendigen Baum und zwei großen, schweren Steinplatten. Diese können an eine Klagemauer erinnern. Angesichts des Leids bleibt uns Menschen oft der Blick ins Weite verwehrt. Eine Mauer, an der ich (an-)klage, fängt mich aber auch auf, stützt und hält mich.
Möglich, dass der Baum als Zeichen neuen Lebens mit seinen Wurzeln eines Tages die scheinbar unverrückbaren Mauerplatten in Bewegung bringt und neu positioniert. Möglich, dass das Leben und das Lebendige stärker ist als die Klage und die Trauer. Die Steinplatten können aber auch an die beiden Gesetzestafeln erinnern, die Mose nach der Begegnung mit Gott vom Berg Sinai dem auserwählten Volk übergibt.
Möglich, dass die Beachtung der Weisungen Gottes uns damals wie heute vor Unheil und Leid bewahren. Möglich, dass wir die Weisungen Gottes neu in Worte und in eine neue Sprache kleiden müssen. Möglich auch, dass wir uns selber zu einer Lebensordnung verpflichten müssen, damit so etwas nicht noch einmal passiert.
Die kleinen und großen Steine um die Tafeln und den Baum sollen für all die Menschen stehen, die sich mit dem Ereignis beschäftigt haben. Vielleicht sind es Wutsteine, Steine des Entsetzens, Steine der Klage und des Aufschreis. Vielleicht sind es aber auch Steine, herausgebrochen aus trennenden Mauern, Gefängnismauern, Krankenzellen, um Brücken zu schlagen und Wege ins Morgen zu festigen. Vielleicht sind es Steine des Versprechens und der Zusage: Darauf könnt ihr euch verlassen!
Nur eines sollten sie nicht sein: Steine, die man nach anderen wirft, Steine, die man anderen vorwirft.
Mögen die Erinnerungsorte und das DenkMal einen Beitrag leisten, dass sich Ereignisse wie am 28.9.1941 nie wieder auf dieser Welt wiederholen. Legen Sie Ihren Stein bewusst dazu. Nur so kann Erinnerung fruchten.
Rainer Remmele
Geistlicher Direktor der
Regens Wagner Stiftungen
Mehr zum Projekt „Erinnerungs-Orte“ bei Regens Wagner Michelfeld finden Sie hier.