Rettungsgassen sind wichtig – nicht nur im Stau

Festgottesdienst bei Regens Wagner Holzhausen anlässlich des Jubiläums „175 Jahre Regens Wagner“

von Anette Böckler

Es ist der 1. Juni, heute Abend feiern wir einen ganz besonderen Gottesdienst. Ein Blick aus dem Bürofenster bestätigt, dass es die richtige Entscheidung war, die Veranstaltung nicht wie geplant im Freien durchzuführen, sondern in die Kirche auszuweichen: Es regnet. Eine Viertelstunde vor Beginn sind plötzlich Bläserklänge zu hören, bekannte und unbekannte Melodien werden angespielt und geben einen kleinen Vorgeschmack auf das, was uns erwartet.

Wir feiern 175 Jahre Regens Wagner. Das Thema begleitet uns schon das ganze Jahr. Am 29. April fand in Dillingen der Festgottesdienst mit Bischof Dr. Bertram Meier statt, dem sich eine Feierstunde im Dillinger Stadtsaal mit hochkarätigen Rednern anschloss (>> zum Bericht). Wir hier in Holzhausen beteiligten uns mit einer „Brot-Zeit“ (>> zum Bericht), wie auch viele andere Regens-Wagner-Häuser in ganz Bayern.

Heute nun soll das Jubiläum in einem eigenen Gottesdienst gewürdigt werden mit wunderschöner Musik und endlich einmal wieder vielen Menschen, die gemeinsam Gott loben und ihm danken.

Eine 15-köpfige Musikergruppe des Musikvereins Obermeitingen gestaltet den Gottesdienst musikalisch unter der Leitung von Daniela Rid

Auftakt

Der Kirchenraum ist gut gefüllt, von der Empore blicke ich auf viele bekannte Gesichter: Menschen, die bei Regens Wagner Holzhausen leben, lernen und arbeiten. Mitten unter ihnen auch Bürgermeister Günter Först mit Gattin, Gemeinderätin Claudia Jetzt-Schwarz, der 1. Vorsitzende des Beirats Werner Alig und Beiratsmitglied Marlies Reggel.

Während die letzten Nachzügler ihre Plätze finden, erklingt bereits das erste Musikstück: das „Te Deum“ von Marc-Antoine Charpentier, besser bekannt als „Eurovisionsmelodie“. Von mir gibt es ein erstes „Wow!“ für einen so festlichen, feierlichen und strahlenden Auftakt. Ein Hauch von Himmel … Den verdanken wir der 15-köpfigen Musikergruppe – Blechbläser, Klarinetten, Querflöten und Schlagzeug – des Musikvereins Obermeitingen unter der Leitung von Daniela Rid.

Es folgt das Eingangslied: „Dass du mich einstimmen lässt, in deinen Jubel, o Herr“. Alle stimmen ein, allerdings hört man es kaum. Dafür sind freilich die FFP2-Masken mitverantwortlich. Doch sie müssen sein, denn es sind viele Leute in der Kirche, wir sitzen nicht mehr komplett auf Abstand. Wie wohl dies dem Auge tut, das nun so lange diesen Abstand mit ansehen musste! Wie schön, dass wir heute wieder in größerer Zahl miteinander Gottesdienst feiern dürfen (mit der gebotenen Vorsicht, die auch die Bitte um einen Selbsttest vor dem Gottesdienstbesuch mit einschließt).

Den gleichen Gedanken hat offenbar auch Pfarrer Johannes Huber. Nachdem er zum Kreuzzeichen eingeladen hat, lautet der erste Satz, den er an die Gemeinde richtet: „Es ist so schön, dass wir uns hier in der Kirche wieder versammeln können, das hatten wir schon lange nicht mehr.“ Dann übergibt er das Wort an Diakon Thomas Knill mit der Begründung: „Er hat alles vorbereitet, und jetzt ist er der, der alles weiß, alles kann und alles hört.“ Aus den Bankreihen kommt verhaltenes Lachen. Tut schon gut, den Pfarrer Huber mit seinem Humor mal wieder hier in unserer Kirche zu hören!

Blick in die Bankreihen beim Jubiläumsgottesdienst am 1. Juni 2022

Das Mädchen mit der Glocke

Jetzt ist aber Diakon Knill an der Reihe. Er fragt in die Runde, wer denn hier so alt sei – 175 Jahre!?! Ein Vorwitziger meldet sich, doch keiner nimmt es ihm ab. Nein, das Geburtstagskind ist Regens Wagner! In diesem Gottesdienst befassen wir uns ein wenig damit, wie das große Werk entstanden ist. Wir fragen uns: Wo kommt es her? Welche Wurzeln hat es?
Diakon Knill verrät uns das nicht einfach so. Worte, denkt er wohl, geraten allzu schnell in Vergessenheit. Deshalb wählt er einen anderen Weg.

Zwei Jungen aus dem Heilpädagogischen Heim und zwei Ministranten kommen nach vorn vor den Altarraum. Dort spielen sie Ball miteinander. Der Ball ist gelb – ob das Absicht ist? Gelb ist ja die Farbe von Regens Wagner! Während ich noch drauf herumdenke, nähert sich von rechts ein Mädchen mit einer kleinen Glocke in der Hand. Es lässt die Glocke bimmeln und kommt auf die Ballspielenden zu. Doch einer von denen herrscht sie an: „Geh weg! Wir wollen nicht mit dir spielen!“ Jeder spürt augenblicklich, wie weh das tun muss. Das Mädchen versteckt sich bei der Marienstatue.

Nun tritt Diakon Knill nach vorn. „Was ist hier los?“, fragt er in den Raum, dann winkt er das Mädchen zu sich: „Warum bist du denn mit dieser Glocke unterwegs? Warum klingelst du ständig damit?“ Antwort erhält er nicht, was er ganz verblüfft kommentiert: „Komisch, die sagt ja nix!“ Er versucht es ein zweites und ein drittes Mal. Am Ergebnis ändert sich nichts. Da könnte man fast ein wenig zornig werden, oder? „Die redet einfach nicht mit mir!“, empört sich der Diakon. Dann aber zeigt das Mädchen ein Schild vor. Darauf ist ein durchgestrichenes Ohr zu sehen. „Ah“, dämmert es Diakon Knill: „Du kannst nicht hören, stimmt’s?“ Keine Reaktion bei dem Mädchen. Da fasst sich der Diakon an den Kopf: „Klar, ich brauch sie nicht fragen, sie hört ja nichts!“

Das haben nun alle im Raum verstanden. Das Mädchen mit der Glocke darf sich wieder hinsetzen. Und die Worte von Diakon Knill fallen auf gut vorbereiteten „Boden“:

„So ungefähr stell ich mir das vor“, sagt er. „Vor 175 Jahren gab es dieses Mädchen, das mit einer Glocke herumgelaufen ist. Johann Wagner ist ihm begegnet und hat schmerzlich begriffen: Das Mädchen ist anders, es steht am Rand, ist ausgeschlossen, niemand will mit ihm spielen. Und für ihn war klar: Das kann nicht sein!“

Der Gedanke an das Mädchen mit der Glocke hat den späteren Regens (Leiter des Priesterseminars) nicht mehr losgelassen, sein Wunsch zu helfen war geweckt und schlief nie mehr ein. Daraus entstand Jahre danach eine zündende Idee, die der Ausgangspunkt war zu dem großen Werk, wie wir es heute kennen. Freilich haben viele, viele Menschen mithelfen müssen, damit es möglich wurde. Die erste Helferin war Schwester Theresia Haselmayr.

Welch eine eindringliche Einführung in den Gottesdienst! Nur der Anfang einer Geschichte … und alle sind gespannt auf die versprochene Fortsetzung. Zunächst folgen wir dem Gottesdienstablauf mit Kyrie, Gloria und Eingangsgebet. Alle liturgischen Teile enthalten bereits viele zentrale Elemente des Jubiläums! Die Lesung, vorgetragen von Gesamtleiter Matthias Albrecht, hat die Geschichte von der Teilung des Roten Meers (Schilfmeers) zum Inhalt (hier nachzulesen), als Evangeliumstext wurde das Gleichnis vom Senfkorn gewählt (hier nachzulesen).

Die „Rettungsgasse“ als Bild für den Auftrag von Regens Wagner

Die Rettungsgasse

In der Ansprache von Diakon Knill erfahren wir nun, wie die Geschichte von Regens Johann Evangelist Wagner und Schwester Theresia Haselmayr weiterging. Die zwei, so werden wir gleich erfahren, haben nämlich eine Rettungsgasse gebildet.

Rettungsgasse?

Gehen wir einen Schritt zurück. Nach dem Evangelium winkt Diakon Knill einige Erwachsene nach vorn. Sie bauen sich in einer Reihe vor dem Altarraum auf und haben Plakate in den Händen. Das erste zeigt die beiden Gründerpersönlichkeiten, auf dem zweiten steht zu lesen „Stau =“, die folgenden vier Plakate zeigen das lange Wort Rettungsgasse silbenweise aufgeschrieben; auf dem letzten Plakat schließlich sehen wir ein Bild einer solchen Rettungsgasse.

175 Jahre Regens Wagner, das hat mit „Rettungsgasse bilden“ zu tun, erklärt uns der Diakon. Denn Rettungsgassen gibt es nicht nur auf der Autobahn bei Stau, das müssen wir schon ein wenig weiter fassen. Rettungsgasse heißt, Menschen machen den Weg frei, damit Hilfe möglich wird. In der Lesung haben wir vom Schilfmeer gehört. Da hat Gott selbst eine Rettungsgasse gebildet, um die flüchtenden Israeliten zu retten. Bei Regens Wagner waren es Schwester Theresia und Johann Ev. Wagner. Sie waren beide von der Idee begeistert, gehörlosen Mädchen zu helfen. Beide träumten von einer Welt, die schön ist.

Sie kannten und wir kennen Menschen, die es schwer haben. Es gab immer und gibt bis heute Menschen, die hören können, und Menschen, die nicht hören können; Menschen die sehen können, und Menschen, die nicht sehen können; Menschen, die leicht lernen, und Menschen, die sich schwer tun. Die Frage, die sich damals Schwester Theresia und Johann Ev. Wagner stellten, lautet: Was können wir tun, damit alle Menschen gut leben können?

Dies war und ist der STARTPUNKT unserer Arbeit.

Da war die Erkenntnis, dass etwas getan werden muss. Dass es einen Gott gibt, der will, dass allen Menschen geholfen wird. Dass er Menschen Gaben geschenkt hat, mit denen sie eine Rettungsgasse bilden können. Dass wir uns gegenseitig stützen und unterstützen sollen, weil wir alle als Gottes Kinder untereinander Brüder und Schwestern sind. Eine Familie! Jeder darf da im MITTELPUNKT stehen. Alle Menschen sind gleich viel wert, alle haben eine Würde. Dies ist der zündende Gedanke.

Schwester Theresia und Johann Ev. Wagner, so Diakon Knill weiter, haben für die gehörlosen Mädchen eine Schule geschaffen, ihnen ein Dach über dem Kopf und eine Arbeit gegeben. Das war der Anfang. Der Funke ist aber übergesprungen auf viele andere Menschen, und so wurde die Flamme weitergetragen von Generation zu Generation, von Dillingen bis hierher nach Holzhausen. Hier ist auch Regens Wagner Holzhausen gewachsen wie das Senfkorn, von dem wir im Evangelium gehört haben, das erst winzig klein war und dann ganz groß wurde. Das ist den Mitarbeitenden zu verdanken, die heute fortsetzen, was die beiden Gründerpersönlichkeiten begonnen haben. Sie geben deren Idee ein Gesicht und schreiben die Geschichte weiter, Hand in Hand, sie bilden heute die Rettungsgasse. Weil auch in ihren Herzen die Flamme brennt.

Pfarrer Huber bereitet die Eucharistiefeier vor; vor den Stufen sieht man die Plakate „Rettungsgasse“ liegen

Lob und Dank zum Abschluss

Manch einer mag diesen Gedanken noch nachhängen, während vorn die Fürbitten gesprochen werden. Darin wird um Segen für alle Menschen bei Regens Wagner Holzhausen gebeten und alle, die Regens Wagner Holzhausen unterstützen. Um gelingende Arbeit und genug Mitarbeitende. Um gegenseitige Wertschätzung und guten Umgang miteinander. Für den Frieden in der Ukraine und den Geist, Fähigkeiten und Talente zu erkennen und mit Freude einzusetzen.

Pfarrer Huber beginnt mit der Eucharistiefeier, die er sehr lebendig gestaltet. „Trotz der Masken merkt man, ob Sie lächeln oder nicht!“, mahnt er etwa beim Friedensgruß: „Also strengen Sie sich an!“ Ja, wir strengen uns an! Das Lächeln gelingt.

Während der Kommunionausteilung erklingt von der Empore „Ins Wasser fällt ein Stein“ – ein mit Bedacht ausgewählter Titel! Denn wer das Lied kennt, freut sich darüber, dass hier noch einmal einige zentrale Elemente aus der Ansprache aufgegriffen werden: Es ist davon die Rede, dass jemand, der Gottes Liebe in seinem Herzen hat, diese Liebe weitergibt und sie „in Tat und Wort hinaus in unsere Welt“ wirken lässt. Dass ein Funke, und sei er noch so klein, helle Flammen entfachen kann und Menschen aus dem Dunkel ins Licht zusammenruft. Man könnte fast meinen, der Lieddichter habe dabei an Regens Wagner gedacht …

Mit einem umfassenden Dankgebet und einem doppelten „TeDeum“ – erst gesungen, dann von den Instrumenten gespielt – endet der super reiche Gottesdienst, aus dem jeder etwas mitnehmen kann: ein Bild, einen Eindruck, ein Wort oder ein Lied. Möglicherweise auch alles zusammen – so wie vielleicht jene Frau, die noch die letzte Melodie vor sich hin summt, während sie die Kirche verlässt.

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